„Es war bei einem Gottesdienst in München, als ich ihn sah, einen ehemaligen SS-Mann, der an der Tür zum Duschraum im Abwicklungszentrum in Ravensbruck Wache gehalten hatte. Er war der erste unserer eigentlichen Gefängniswärter, den ich seit dieser Zeit gesehen hatte. Und plötzlich war alles wieder da – der Raum voller spöttischer Männer, die Haufen von Kleidung, Betsies schmerzverzerrtes Gesicht.
„Er kam auf mich zu, als sich die Kirche leerte, strahlte und verbeugte sich. ‚Wie dankbar bin ich für Ihre Botschaft, Fräulein‘, sagte er. Wenn ich daran denke, dass er, wie Sie sagen, meine Sünden abgewaschen hat! Er streckte die Hand aus, um die meine zu schütteln. Und ich, die ich den Menschen in Bloemendaal so oft gepredigt hatte, wie wichtig es ist, zu vergeben, behielt meine Hand an meiner Seite.
„Schon als die wütenden, rachsüchtigen Gedanken in mir hochkochten, erkannte ich die Sünde darin. Jesus Christus war für diesen Mann gestorben; sollte ich noch mehr verlangen? Herr Jesus, betete ich, vergib mir und hilf mir, ihm zu vergeben. Ich versuchte zu lächeln, ich mühte mich, meine Hand zu heben. Ich konnte es nicht. Ich fühlte nichts, nicht den geringsten Funken von Wärme oder Nächstenliebe. Und so hauchte ich erneut ein stilles Gebet. Jesus, betete ich, ich kann ihm nicht vergeben. Schenke mir Deine Vergebung.
„Als ich seine Hand nahm, geschah das Unglaublichste. Von meiner Schulter über meinen Arm und durch meine Hand schien ein Strom von mir zu ihm zu fließen, während in meinem Herzen eine Liebe zu diesem Fremden aufkeimte, die mich fast überwältigte. Und so entdeckte ich, dass die Heilung der Welt nicht von unserer Vergebung abhängt, genauso wenig wie von unserer Güte, sondern von Seiner. Wenn Er uns sagt, wir sollen unsere Feinde lieben, gibt er uns mit dem Gebot auch die Liebe selbst.“
—Corrie Ten Boom, The Hiding Place