Der Mann im schwarzen Pullover | thebereancall.org

Vins, Georgi

Wir fuhren durch die dunklen Straßen von Novosibirsk zum Gefängnis. „Trautes Heim!“ sagte mehrere Gefangene. „Endlich können wir vor unserer nächsten Reise ausschlafen.“ Wir waren erschöpft, denn zwei Tage und zwei Nächte hatten wir in diesem überfüllten Gefangenenzug weder geschlafen noch gegessen. Aber zuerst mussten wir eine weitere Durchsuchung ertragen. Sie dauerte zwei Stunden.

Als ich durchsucht wurde, betete ich, O Herr, schütze mein kleines Evangelium und hilf mir. Menschlich habe ich keine Kraft mehr für eine neue Schlacht. Wieder blieb das Evangelium geschützt.

Wir wurden in einen langen, dunklen Korridor gebracht. Beide Wände waren mit schweren Metalltüren der Gefängniszellen gesäumt. Eine Reihe trüber Lampen, die von der Decke hingen, vertieften die gruselige Atmosphäre.

„Hinsetzen!“ befahl ein Wachmann.

Hundert Gefangene gehorchten still und saßen auf dem kalten Zementboden. Ein Offizier rief die Nachnamen der Gefangenen. Wachmänner eskortierten kleine Gruppen von Gefangenen in ihre Zellen. Eine Stunde später saß ich immer noch da. Bald war ich als einziger Gefangener übrig.

Zuletzt wurde mein Name gerufen und ich wurde den langen Korridor runtergeführt. Man hatte mir eine alte, schmutzige Matratze und ein großes, schmutziges Kissen zugeteilt. In einem Arm hielt ich mein Bettzeug, im anderen die Tasche mit meinen Habseligkeiten. Ich war vollständig erschöpft. Meine Füße waren wie tot. Ich konnte nichts mehr aufnehmen. Ich wollte mich bloß noch hinlegen und schlafen, sogar hier auf dem kalten Zementboden.

Schließlich hielt der Wachmann, schaute in das Schlüsselloch einer schweren Metalltür, dreht den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf.

„Geh rein“, sagte er, und wies mich hinein. Er verriegelte die Tür hinter mir. Schwerer Tabaksqualm erfüllte die Zelle. Zwei Birnen brannten trübe an der Decke. Die Zelle war nicht groß und sollte sechzehn Mann Platz bieten. Stockbetten aus Metall waren an der Wand. Ein Holztisch und zwei Holzbänke standen in der Mitte des Zimmers. Toilette und Wasserhahn waren teilweise hinter einem Wandvorsprung in der Ecke verborgen.

Obwohl es nach Mitternacht war, schlief keiner der Gefangenen. Sie waren über etwas aufgebracht und hatten sich gestritten. Einige standen in der Mitte der Zelle nahe der Tür. Andere saßen am Tisch. Ein paar lagen auf den Stockbetten. Beinahe alle schauten mich feindselig an. Etwas in der Zellatmosphäre alarmierte mich.

„Guten Abend“, sagte ich, dann verbesserte ich mich. „Gute Nacht.“ Ich ließ meine Matratze und Bett auf den Boden fallen. „Ich habe zwei Tage nicht geschlafen. Komme gerade vom Transportzug.“

Ich wollte zu einem leeren Stockbett gehen, aber zwei Gefangene versperrten mir den Weg.

„Warum kommst du so spät in unser ‚Heim‘?“ fragte ein großer Mann in schwarzen Pullover.

„Ich komme gerade vom Transport“, antwortete ich.

„Du warst ganz alleine in einem Transportzug?“ piepste eine Stimme aus einem Bett.

„Nein, wir waren etwa Hundert vom Irkutsk Gefängnis.“

„Wo sind sie? Warum bist du alleine hierher gebracht worden? Es ist eine Falle!“ rief jemand.

„Hau ab hier! Ruf eine Wache! Wir haben Leute wie dich schon gesehen!“ knurrte der Mann im schwarzen Pullover. Er wies auf die Tür.

Ich hatte keine Energie mehr für eine Erklärung. „Ich möchte einfach schlafen“, sagte ich und versuchte Frieden zu stiften. „Ich war zwei Tage und Nächte ohne Schlaf.“

Mehrere Männer begannen, mich zu verfluchen.

Mein Geist flehte zu Gott. O Jesus, sei mit mir! Ich weiß nicht einmal, wo ich bin.

Ein magerer, kleiner alter Mann kam aus der Menge. „Wie viele Leute hast du getötet?“ krächzte er.

„Ich bin Christ. Ich habe keinen getötet. Weil ich an Gott glaube, wurde ich zweimal verurteilt“, antwortete ich.

„In welchem Gefängnis warst du vorher?“

Das erste Mal war im Nord Ural. Ich habe gerade fünf Jahre verschärfte Haft in Yakutia hinter mir.“

„Du bist also Christ und kein Mörder?“ fragte der Mann im schwarzen Pullover. „Es ist das erste Mal, dass ich jemanden wie dich im Gefängnis sehe. Warum haben sie dich in diese Zelle gesteckt? Wir alle sind Mörder.“ Er wies auf den kleinen, alten Mann. „Und dieser tötete fünf Leute. Wir alle kommen von unseren Verfahren und werden in Lager mit verschärfter Haft geschickt.“ Er begann, den Richter und Gott zu verfluchen.

„Warum fluchst du Gott? Protestierte ich. „Er brachte dich nicht hier rein.“

„Wir kennen Typen wie dich“, rief er und kam auf mich zu. „Hau ab! Du bist kein Christ“ Er schob mich mit seiner Schulter.

Ich wusste nicht, was tun. Die feindseligen Gesichter der Gefangenen umringten mich. In meinen acht Jahren im Gefängnis war mir so etwas nicht geschehen. Rufe, Flüche, Drohungen und etwas Böses, was ich nicht verstehen konnte, füllte die Zelle.

„Du sagst, du bist Christ?“ rief einer. „Beweis es! Zeig uns deine Bibel!“ Andere wiederholten den Befehl.

Meine Gedanken rasten wie verrückt. Sollte ich ihnen mein kleines Markusevangelium zeigen? Was, wenn sie es zerrissen? Nein, ich muss es ihnen zeigen. Der Herr wird Sein Wort vor diesen Mördern schützen, wie Er es vor den Soldaten im Zug tat.

„Glaubt ihr wirklich, ich könnte eine ganze Bibel ins Gefängnis schmuggeln? Sie würde konfisziert werden! Aber ich habe das Markusevangelium. Das ist Teil der Bibel“, sagte ich.

„Zeig es uns!“ verlangte einer der jungen Männer.

Ich öffnete meine Tasche und zog die Schachtel mit dem kleinen Evangelium raus. Hände streckten sich aus allen Richtungen, um es zu berühren. „Es ist so winzig!“ wunderten sich die Gefangenen. Jeder wollte es sehen.

„Können wir es lesen?“ fragte der Mann im schwarzen Pullover.

 „Natürlich!“ Ich gab es ihm.

Plötzlich schoss der magere, kleine alte Mann nach vorne und griff nach dem kleinen Buch. „Berührt es nicht!“ rief er. Es ist ein heiliges Buch und unsere Hände sind sündig! Sie sind voll Menschenblut! Lasst ihn vorlesen!“

Der Mann im schwarzen Pullover befreite sich aus seinem Griff. Sein Blick wanderte vom kleinen, alten Mann zum Evangelium, noch in seiner Hand, und dann zu mir.

„Habt keine Angst“, drängte ich. „Dies Buch war für euch wie für mich geschrieben. Es enthält den Weg zur Rettung und neuem Leben.“

Ich stand, hielt noch meine Tasche. Die Müdigkeit überwältigte mich. Ich wusste nicht, wie lange ich noch stehen konnte. Ein junger Mann wandte sich mir zu. „Du kannst heute Nacht mein Bett haben.“ Dann verspottete er die anderen, „Ha! Warum greift ihr ihn an wie Tiere? Seit Jahren ist der Mann nur für seinen Glauben an Gott im Gefängnis, und ihr schikaniert ihn! Setz dich.“ Er zeigte mir sein Bett.

„Woher kommst du?“ fragte er.

„Kiew“

„Ich bin auch von Kiew! Ich habe einen Monat dort geraubt. Dort wurde ich zuletzt verhaftet. In welchem Lager warst du?“

„Tabaga, ein Lager mit verschärfter Haft etwa fünfzehn Meilen von Jakutsk“, antwortete ich.

Ein anderer Gefangener bestätigte meine Aussage. „O ja“, sagte er und wippte mit dem Kopf rauf und runter, „ich kenne dieses Lager. Welche Lager sind noch in Yakutien?“

Ich benannte mindestens drei andere Lager in Yakutien, wo ich Gefangener war. Wieder bestätigten andere Gefangene meine Worte. Der Mann im schwarzen Pullover, der immer noch das Evangelium hielt, setzte sich an den Tisch. Der Rest der Männer stellte sich um ihn und er begann laut zu lesen.

„Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Wie geschrieben steht in den Propheten: Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird…“

„Lasst uns es sehen! Ich möchte es halten! Ich möchte es zumindest berühren! Nie im Leben hielt ich ein Evangelium!“ unterbrachen aufgeregte Stimmen.

Genau da scharrte die Metalltür auf und ein Offizier und zwei Soldaten kamen in die Zelle. Sogar bevor die Tür komplett offen war, hatte es der Mann im schwarzen Pullover geschafft, das kleine Buch einem anderen Gefangenen zu geben, der wie ein Blitz auf sein Bett hüpfte. Es geschah so rasch, dass es kaum jemand in der Zelle bemerkte.

„Warum schlaft ihr nicht?“ fragte der Offizier. Dann schaute er mich an. „Wie gefällt euch euer neuer Zellgenosse? Ist er einer von euch?

Alle waren still. Der Offizier schien ziemlich enttäuscht. Er prüfte mein Gesicht, um zu sehen, ob ich geschlagen worden war. Nun war mir klar, warum ich in dieser Zelle war. Er hatte erwartet, die Mörder hätten mich angegriffen.

„Glaubt ihm nichts, was er sagt“, sagte der Offizier, und deutete mit dem Finger auf mich, als er rausging.

Nachdem der Offizier weg war, holte der Mann im schwarzen Pullover wieder das Evangelium. Ich ging auf ein Bett, kniete hin und dankte Gott von Herzen.

„Schaut! Er betet!“ wisperten ein paar Gefangene verblüfft. „Lasst ihn beten. Es ist seine Sache“, sagten andere.

Vollkommener Friede erfüllte mein Herz. Später erfuhr ich, dass der KGB tatsächlich die Gefängnisleiter angewiesen hatte, mich in diese Zelle zu stecken. Sie hatten einigen der Gefangenen vorher Lügen über mich erzählt und diese angestiftet, mich anzugreifen. Ich bin sicher, der KGB verheimlichte die Tatsache, dass ich Christ war. Aber mit diesem kleinen Markusevangelium, hatte Gott auf verblüffende Weise die abgefeimten Pläne Seiner Feinde umgeworfen. Ich fühlte mich vollkommen sicher, von Gott Selbst geschützt.

¬ Auszug aus The Gospel in Bonds: 8 Years in the Soviet Gulags - Imprisoned for His Faith von Georgi Vins, publiziert von Lighthouse Trails Publishing, verwendet mit Genehmigung.

1926 verließ der amerikanische Missionar Peter Vins die Vereinigten Staaten, um in Sibirien zu missionieren. Der junge Peter hatte sein Theologiestudium in Kentucky beendet, dann vorübergehend eine Gemeinde mit russischen Immigranten in Pittsburgh, Pennsylvanien geleitet. Er verliebte sich dort in eine Christin und bat sie, ihn zu heiraten. Sie stimmte zu und die beiden kündigten die Verlobung an. Als jedoch Peter seiner Verlobten sagte, Gott berufe ihn nach Russland, weigerte sie sich, mitzugehen. Ihr Ultimatum war, „Entweder ich oder Russland“. Gebrochenen Herzens blies Peter die Verlobung ab und ging alleine nach Russland.

In Russland segnete der Herr Peter Vins. Die Leute reagierten auf seine Predigt und viele kamen in seine Gemeinde. Auch zog eine Russin, eine engagierte Christin, bald seine Aufmerksamkeit auf sich. Peter begann der jungen Lydia Zharikova den Hof zu machen und heiratete sie 1927. 1928 gebar Lydia ihrem Mann in Blagoveschensk einen Sohn, den sie Georgi nannten. Das Evangelium in Fesseln ist Georgis Geschichte.